Wingfoilen: Wir wagen den Selbstversuch
Wingfoilen ist der neue Trend im Wassersport und soll leicht zu erlernen sein. Stimmt das? Unser Autor hat in Silvaplana einen Selbstversuch gewagt.
Meine Lippen sind blau, ich zittere leicht, noch einmal darf ich nicht ins Wasser fallen, sonst gebe ich auf. Der Lehrer mit dem Surferboy-Lächeln sagte, es sei gar nicht so schwer, Wingfoilen zu lernen. Keine Leinen, die sich verheddern, kein Schirm, der ausser Kontrolle geraten kann.
Von wegen. Ich knie auf meinem Brett und versuche, mit meinen Gesässmuskeln den Wind auszugleichen. Um mich herum gleiten Dutzende Kitesurfer über den Silvaplanersee, manche springen meterhoch aus dem Wasser, andere ziehen enge Kurven.
Es sieht aus wie eine penibel einstudierte Performance. Wie schaffen sie es, nicht ineinander zu krachen? Eine Windböe erfasst meinen Wing und ich falle wieder ins zwölf Grad kalte Wasser.
Mekka für Wingfoiler
Eine Stunde zuvor: Ich stehe am Silvaplanersee, am Horizont die imposante Kulisse des Piz Julier, in den Ohren der Wind, der unerbittlich bläst. «Das fäget richtig hüt», sagt Michael Oberli, der Instruktor mit dem Surferboy-Lächeln.
Vor ein paar Jahren hat er als Polizist in Bern noch Bussen verteilt. Jetzt steht er mit braungebrannten Füssen vor mir und will mir Wingfoilen beibringen.
Wingfoilen ist eine Mischung aus Windsurfen, Stand-up-Paddling und Kitesurfen. Das Besondere an dieser Wassersportart ist der Flügel, den man sich über den Kopf hält. Anders als beim Windsurfen hält nur eine Sicherheitsleine Surfer und Material zusammen.
Es dauerte nicht lange, bis nach der Präsentation des ersten Wings 2019 erste Wingfoiler auf Schweizer Seen auftauchten. Denn im Gegensatz zum Kiten ist das Wingfoilen auf allen Schweizer Seen erlaubt.
Den Wind einfangen
Ich habe mich für Silvaplana im Oberengadin entschieden, um Wingfoilen zu lernen. Der höchstgelegene Windsurfspot Europas ist ein guter Ort dafür, weil es hier windet. Also immer. Malojawind heisst die Brise, die Erklärung des Phänomens führt in die Welt der Thermik, das ersparen wir uns.
Kurz: Wenn die Sonne scheint – und das tut sie hier an über 300 Tagen im Jahr –, dann weht es. Deshalb ist Silvaplana auch als Surf-Mekka der Alpen bekannt. Früher war hier vor allem Kitesurfen angesagt.
Heute sieht man auf dem Silvaplanersee an guten Tagen Dutzende von Wingfoilern. Aus der Ferne sehen sie aus wie Schmetterlinge, die über das Wasser gleiten.
Grosse Nachfrage
Bevor ich zum Schmetterling werde, verdonnert mich Michael Oberli zu Trockenübungen an Land. Denn abgesehen von ein paar Surfstunden vor zehn Jahren habe ich keinerlei Wassersporterfahrung.
Zuerst pumpen wir den Wing auf, er ist symmetrisch und etwa fünf Quadratmeter gross. Dann muss ich lernen, ihn über den Kopf zu halten. Der Wind bläst mit 20 Knoten, etwa 35 km/h – schwierige Bedingungen für das erste Mal. Ich soll den Wind einfangen und so später das Board steuern.
Drehe ich den Wing etwas nach links, haut es mich fast von den Füssen. Drehe ich ihn nach rechts, haut es den Wing in den Boden. «Das machst du gut!», versucht Oberli mich zu motivieren. Ich lächle gequält.
Wir gehen aufs Wasser, probieren es zuerst kniend. Und mit Board ohne Foil. Das Foil befindet sich normalerweise unter dem Brett. Es besteht aus einem Front- und einem Heckflügel, die über einen Mast mit dem Brett verbunden sind.
Erreicht man eine bestimmte Geschwindigkeit, hebt das Board ab und man schwebt praktisch über dem Wasser. Ich werde mich heute darauf konzentrieren, meinen Drachen in der Hand zu kontrollieren. Das rechte Knie nach vorne auf das Board, das linke Knie nach hinten.
Der Wind weht parallel zum Ufer, also muss ich eine gerade Linie vom Ufer weg fahren. Beim ersten Versuch kann ich mich gut fünf Sekunden auf dem Brett halten. Beim zweiten Versuch sind es zehn. Und beim dritten wirft mich eine Welle rückwärts vom Brett.
Einfacher als erwartet
«Sehr gut, du hast Talent», ruft mir Michael Oberli zu. Es dauere eine Weile, bis man die Schritte verinnerlicht habe, sagt er, als ich zum ersten Mal ans Ufer schwimme. Der Mann versteht es, Menschen zu motivieren.
Aber ich merke: So schwer ist es wirklich nicht. Noch ein paar Versuche, dann könnte es klappen. Man bekommt sehr schnell ein Gefühl für den Flügel, Kitesurfen stelle ich mir viel schwieriger vor.
Vielleicht kommt Wingfoilen deshalb so gut an. Oberli erzählte mir, dass schon kurz nach der Einführung der Wingfoil-Kurse bei ihm im Sportzentrum Mulets das Interesse gross war. «Die Leute finden es super, weil man nicht so viel Material braucht und es relativ sicher ist», sagt Oberli.
Das Segel tut nicht weh, wenn es auf den Kopf fällt. Und man kann schon bei geringen Windgeschwindigkeiten in Ufernähe surfen. Das Sportzentrum Mulets ist nicht allein: Surfshops in der ganzen Schweiz berichten von jährlichen Verkaufszuwächsen von 40 bis 50 Prozent.
Ich gehe zurück ins Wasser, falle noch ein paar Mal vom Brett und erinnere mich an einen Tipp von Oberli: den Schwerpunkt tief halten und den Wing nicht zu fest umklammern. Ich spanne meine Bauchmuskeln an, setze zuerst den rechten Fuss aufs Board, zittere ein wenig, dann mit einem Satz den linken. Geschafft!
Ich stehe auf dem Brett, gleite über das Wasser und fühle mich zwar nicht wie ein Schmetterling. Aber immerhin wie ein Wassersportler. Zumindest für ein paar Sekunden.